8
Mrz
2010

Nichts sagend.

Roter Nagellack. Abgesplittert und ungepflegt. Gedankenverloren schiebt sie den Nagel des rechten Daumens unter die doppelte Schicht und schiebt den alten Lack hoch. Wenn es einfach geht, wenn der Lack sich wie Folie auf den Daumennagel legt, sich hoch schieben lässt und am Ende einfach abzuziehen ist, gibt ihr das ein befriedigendes Gefühl. Sie schaut aus dem Fenster. Grau oben, weiß unten. Seit Monaten schon. Sie hätte nie gedacht, dass der viele Schnee ihr so aufs Gemüt schlagen würde. Das vorsichtige Gehen engt sie ein. Sie will wieder ihren normalen Stechschritt gehen. Nicht ständig hinschauen müssen und sich unbewusst zügig fortbewegen können. Sie will auch keinen juckenden Kopf unter dicken Wollmützen haben und die elektrisch aufgeladenen Fisselhaare machen sie hässlich. Scheisswinter! denkt sie. Scheissnagellack! Und überhaupt ist alles irgendwie Scheisse. Sie schaut auf ihren Tee, der dampfend vor ihr steht und geht mit der Nase ganz dicht heran. Aromaschnüffeln nennt sie das. Meistens riecht aber der fadste und laffste Tee am Leckersten. Sie könnte eine Studie darüber schreiben. Eine Tee-Studie. Sie haucht die vom Kondenswasser blinde Scheibe an und malt ein Gesicht. Es lacht. Sie erinnert sich an ihre Freundin, die beim Kniffeln einen Blick auf ihren Block warf und sagte: Du malst immer nur lachende Gesichter! Ja. Tut sie wohl. Smile and the world smiles with you. Sie legt ihre Füße auf den Stuhl gegenüber und schaut sich ihre neuen Stiefel an. Braune Boots mit cooler Kordel, bißchen abgeranzt. Ein richtig lässiges Londoner-Szene-Mädchen bist du an den Füßen. So cool die Schuhe auch sind, so stehen sie auch gleichermaßen für ihre Unvernunft. Sie hätte 3 wichtige Rechnungen zahlen können von dem Geld. Scheissrechnungen! Sie widmet sich wieder ihrem Tee. Nippt vorsichtig und beobachtet dabei schielend die schwimmenden Pfefferminzpflänzchen. Guter Tee. Die Kellnerin mit der rasierten Schädelhälfte und den indianischen Federohrringen stupst vorsichtig ihren Stuhl zur Seite. Ach, sie liebt das kleine Lokal, hier darf sie die Füße auf die Sitzfläche legen und keiner sagt was.

Sie schließt die Augen. Versucht, alle verschiedenen Stimmen, die zu einem murmelnden Stimmenwirrwarr geknäult sind, zu fangen und gleichzeitig zu hören, was sie sagen. Aus den Melodien der Stimmen erkennt sie schnell den Taktgeber. Die große Uhr über der Kaffeemaschine. Tick, tack. Tick, tack. Ich hätte Spionin werden können, wenn ich gewollt hätte, denkt sie und muss lachen. Heimlich, in ihrem Inneren. Von außen sieht man nichts. Sie öffnet die Augen und starrt auf die riesige altmodische Bahnhofsuhr. Ihr Magen zieht sich zusammen. Der Sekundenzeiger rennt um sein Leben. Sie wünscht sich den Keks von Alice im Wunderland, sie würde abbeissen und innerhalb weniger Sekunden wachsen, von ihrem viel zu kleinen Sitzplatz aufstehen, einen Riesenschritt hinweg über die Tische hinter den Tresen machen, sich bücken, und den verdammten Zeiger anhalten. Mit einem Fingerzeig würde sie den Kleinmach-Trank bestellen und sich dann brav wieder hinsetzen. Nach einer schockierenden Minute würden die Menschen sich wieder ihren Gesprächen, ihren Körnerbrötchen und Rühreiern widmen und alles wäre beim Alten, bis auf, dass die Zeit stehen bliebe. Geht ja nicht. Ist ja alles nur Fantasie. Scheissfantasie! Unverändert, verloren in ihren Gedanken ohne jegliche Mimik sitzt sie seit Stunden auf der Bank mit den orientalisch verzierten Kissen in pink, gelb und grün, angelehnt ans feuchte Fenster. Sie nimmt sich die Mopo, die abgegriffen in der Ecke liegt und blättert direkt zum Kreuzworträtsel. Kramt gleichzeitig in ihrer kamelbraunen labberigen Lieblingstasche nach ihrem Glücksstift und findet ein hüllenloses altes Salbeibonbon, das sich ans Innenfutter geklebt hat. Nicht schon wieder, denkt sie, zieht das Bonbon mit einem Ruck ab und findet den Stift. Beginnt das Rätsel rechts oben, so wie sie es immer tut und löst es, ohne den Stift abzusetzen. Sie fragt sich, ob diese Rätsel so einfach sind, damit sich die Leserschaft gut und schlau fühlt. Oder damit so ziemlich jeder das Rätsel löst und beim Gewinnspiel mitmacht und so all die lieben kleinen Adressen eintrudeln, für die es viele Abnehmer geben würde.

Im Hintergrund läuft Waterloo von Abba. Das passt nicht hierher. Das fühlt sich falsch an. So falsch. Sie fragt sich, wie Napoleon es wohl gefunden hätte, wenn er gewusst hätte, dass fast 200 Jahre später aus seiner völligen militärischen Niederlage ein frischer Song zum Schwofen für Herzschmerzgeplagte gebastelt wurde. Waterloo - I was defeated, you won the war. Gedanken. Ge-dank-en. Danke. Sie weiß, dass es Zeit wird. Dass sie langsam die Rechnung bezahlen, ihren riesigen Schal um den Hals wickeln und ihre warme Kapuzenjacke anziehen sollte. Der Blick auf die Uhr lässt keinen Zweifel. Sie zieht sich an, bezahlt, findet, dass ihr die schöne Kellnerin einen Moment zu lang in die Augen schaut und steht vor dem Café. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, atmet tief ein und unterdrückt den plötzlich übermächtig aufkeimenden Drang, die Tür wieder aufzumachen, sich einfach wieder hinzusetzen und so zu tun, als wäre nichts, als stünde ihr nichts bevor. Sie wirft einen Blick zur Fensterscheibe, dort wo sie vor ein paar Minuten noch sass, ist die Scheibe klar. Sie schaut hinein, auf ihren Platz und in dem Moment lässt sich eine Frau nieder, schmeisst die Mopo mit ihrem komplett gelösten Rätsel und den schönen Kugelschreiber-Ornamenten auf die andere Seite, räumt die kleinen Schiffchen, die sie aus den Servietten gebaut hatte, achtlos mit einer Armbewegung ins Brotkörbchen und hebt den Finger zur Bestellung. Sie wurde innerhalb weniger Sekunden weg gewischt. Als hätte sie dort nie gesessen. Von einer, die ihr hinterlassenes Kunst-Plätzchen weder gesehen noch gewürdigt hat. Ihr Magen zieht sich erneut zusammen wie eine Raupe, die man mit einem Stock anstupst. Begleitet von einem heißen, säuerlichen Ziehen. Sie schließt die Augen. Das geht gleich wieder vorbei, 1, 2, 3, 4, 5. Siehst du, schon weg!

Weg.

Weg ist ein seltsames Wort. Lang oder kurz gesprochen bekommt es eine völlig neue Bedeutung. Ich bin dann mal weg und mache mich auf den Weg. Seltsam.
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