6
Sep
2010

Über falsche Bestellungen und Nah-rung

Bei meiner Bestellung sagte ich extra “Ohne Champignons bitte” und während ich den ersten Löffel meiner heißgeliebten Kumpir gierig in mich hinein schiebe, spüre ich im selben Augenblick die wabbelige, unverwechselbare Konsistenz in meinem Mund. Ein Champignon. Ich spucke ihn zurück auf meinen Teller und wie ein in sich zusammen sackendes Überbleibsel eines Gedärms liegt er da, nackt, sich selbst überlassen, hilflos. Wieder ist es passiert: ich habe klar und deutlich geäußert, was ich haben möchte. Kurz und präzise. Kein Raum für eigene Interpretationen. Ich hasse Champignons in meiner Kartoffel. Ich hasse sie. Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich immer das bekomme, das ich will, bestelle oder wünsche. Nein. Ich tausche Geschenke nicht um, obwohl man mir vorher freundlich flötend versichert, dass das “gaaar nicht schlimm” wäre. Passen mir die neuen Schuhe nicht, laufe ich tapfer mit Blut in den Schuhen die nächsten 3 Wochen durch die Gegend, weil ich mich davon überzeuge, dass die sich auf jeden Fall noch weiten. Selbst wenn ich etwas online bestelle, das nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe, behalte ich es. Aus Faulheit und weil ich ein Meister darin bin, mir Dinge schön zu reden, die ich gar nicht mag.

Dass ich das aber auch umgekehrt meisterhaft beherrsche, das war mir nicht klar. Aufgekratzt sass ich mit meiner besten Freundin und zwei Jungs in einem Restaurant. Es war ein schöner Tag, die Sonne und die nicht zu verachtende Menge an Alkohol hatte uns Mädchen in eine schwer nachvollziehbare, fast peinliche gute Laune versetzt. Die Hemmschwelle bezüglich stumpfsinniger Äusserungen wurde nicht schon längst nur übertreten, sie wurde komplett niedergerissen. Das begleitende Gegackere hallte laut in dem Innenhof nach wie ein Echo in den Bergen und der uns unbekannte Kumpel vom Boy verzog fast unmerklich das Gesicht. Er starrte an mir vorbei und Rettungslöcher in die Luft, kleine Ausgänge, hinter welchen eine andere Welt auf ihn wartete. Eine Welt voller Ruhe, Intelligenz und Männerthemen. Er wollte nicht bei uns sein.

“Du redest nicht so viel, oder?” fragte ich ihn, nachdem ich in Höchstform wild gestikulierend mit einer weiteren Anekdote meines Lebens auffuhr. Der Langweiler guckte mich nur an, träge desinteressiert, und zuckte mit den Schultern. Sein Freund kam ihm zur Hilfe. “Er ist gerade nicht so gut drauf...” Aha dachte ich und fragte: “Weiberkram?” Stummfisch nickte. Er tat mir leid, wie er da sass, mit hängendem Kopf, sich sichtlich unwohl fühlend. Trotzdem kam ich nicht an dem garstigen Gedanken vorbei, dass er selbst Schuld an seiner Misere war. Welche Frau will denn so einen latent depressiven, in sich gekehrten Halbautisten? Dafür, dass ich ihn erst seit geschätzten 20 Minuten “kannte”, wagte ich wie gewohnt eine direkte Analyse seines Wesens, seines Charakters, ja seines gesamten Lebens. Emo-Mann wollte vermutlich einfach nur nach Hause, in seine vier Wände. Sich seinem Kummer widmen, schwerer Geigenmusik lauschend und sich kettenrauchend aufkeimenden Suizidgedanken hingeben. Aber er war gefangen. Gefangen in der lauten, grellen, unwitzigen und albernen Mädchenwelt. Zum Glück sollte gleich sein Burger serviert werden. Sein Männer-Essen, das er sich bestellt hatte und das der einzige Lichtblick seines Tages werden würde.

Unser Essen kam. Meine Spaghetti Bolo waren – wie sollte es auch anders sein – ekelhaft. Sie schmeckten einfach nur nach Tomatenmark. Ich moserte. Meine gute Laune verflüchtigte sich innerhalb von Sekunden und ich war bereit, alleine in Polen einzumarschieren und zu rufen: “Ich habe diesen Krieg nicht angefangen, aber ich werde ihn beenden!”. Ich schob demonstrativ den Teller von mir weg und verschränkte die Arme. Meine nicht zu übersehende Missgunst bezüglich meiner Nahrungswahl wurde von bester Freundin und Boy schlichtweg ignoriert. Glücklich und in sich gekehrt machten sie sich über ihr leckeres Essen her. Mir wurde klar, von diesen beiden egoistischen Essgestörten habe ich nichts zu erwarten. Doch Trauerkloß beobachtete mich. Zog die Stirn kraus und formte einen ganzen Satz: “Magst du die Nudeln nicht?” “Ja ach mag ich die Nudeln nicht, du Blitzmerker!” dachte ich und antwortete stattdessen: “Neee. Die schmecken nach Tomatenmark.” Sein Blick wanderte auf seinen Burger und dann auf meine Nudeln. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als er sagte: “Dann gib halt her... Ich esse deins!”. Oh mein Gott, Jackpot. Ich wartete noch sein “Ich schmecke sowieso nichts, ich bin so voller Trauer und am Liebsten würde ich einfach nie mehr etwas essen!”, das natürlich nicht kam, ab und zog seinen Teller an mich heran. Bestes Burger-Fleisch. Ich beobachtete ihn, wie er ruhig meine Nudeln, die nun seine waren, aß. Unsere Blicke trafen sich und ich lächelte ihn an. Er schüttelte leicht den Kopf und widmete sich wieder den Nudeln. Ich fragte mich, warum er das tat. Warum der Mensch, dem ich und der tomatenmarkige Fraß sicherlich am Arsch vorbei gingen, ein derartiges Opfer brachte, während der Mensch, der eigentlich meine Ekelmenü essen sollte, nicht mal bemerkte, dass ich meine Nudeln verabscheute.

Retten konnte ihn das vor meiner Stempelvergabe an diesem Abend trotzdem nicht mehr. “Der ist aber langweilig... Ich würde sagen, das ist der langweiligste Mensch, den ich jemals in meinem ganzen Leben getroffen habe. Wie passt der denn in deinen Freundeskreis?? Gruselig.” verkündete ich ungefragt mein Fazit auf dem Nachauseweg. “Gruselig, wirklich gruselig.”

Gruselig ist aber eigentlich nur, was sich später, viel später, abspielte:

“Brrr, also der ist ja so überhaupt nicht mein Typ!”
(Alter, was hat der denn für nen schönen Mund? Und die Augen! Abartisch.)

“Jura studiert der? Oh Gott, Seglerschuhe und hochgestellter Kragen oder was?”
(Wie süß sieht der denn in dem Ranz-T-Shirt und der 501 aus?)

“Was erzählt der denn überhaupt so, wenn er mal redet?”
(Scheiße, der Typ ist ja sogar witzig.)

“Der steht doch bestimmt nur auf so kleine Abi-Mädchen vom Hamburger Berg!”
(Hoffentlich steht der auf mich!)

“Was ist denn das für ein ulkiger Nachname? So will doch niemand heißen!”
(Doch. Ich.)

Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich immer das bekomme, das ich will, bestelle oder wünsche.
Aber ihn habe ich mir gewünscht. Ich habe es nur nicht gewusst.
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