3
Mai
2010

Erwachet!

Die gemeinen Witze über die Zeugen Jehovas haben wir alle schon gehört. Ich fühle mich unbehaglich, wenn sie mich freundlich, den Wachturm in den Händen haltend, am Bahnhof anlächeln so als wäre ich der liebenswerteste Mensch der Welt. Egal, ob ich meine nuttigen Highheels anhabe, meine Strumpfhose mehr Brandlöcher aufweist als die Rückbank des alten Sciroccos eines Exfreundes, mir jeder - wirklich jeder - Mensch ansieht, dass ich gerade hemmungslosen Sex inklusive leichten Gewalteinlagen mit einem halbwegs Fremden hatte und die angsteinflössenden, von meiner verschmierten Mascara hinterlassenen Zeichen auf meinen Wangen, lassen mich nicht gerade anständig wirken. Egal. Die Zeugen lächeln mich an als wären sie meine Eltern und ich ihr braves, frisch geduschtes Töchterchen, das mit einem wunderbaren Blumenstrauß gerade den sonntäglichen Elternbesuch abhält. Das Gute an dieser Situation ist: sie geht vorbei. Wenn ich vorbei gehe. Scheuklappen-Blick, unhöfliches Wegschauen und Stechschritt Marsch. Für eine Sekunde steht die Enttäuschung in ihre rosigen Gesichter geschrieben, wieder eine verlorene Seele, ein Mädchen, das sie nicht retten können, aber mit dem Wissen, dass Gott uns alle liebt und auch für das Trümmergirl gesorgt ist, visieren sie ihr nächstes Opfer an. Und das ist auch in Ordnung so.

Doch was tut man, wenn man morgens im Bett liegt, gerade noch die letzten Minuten des überaus anregenden Traumes erlebt und es an der Tür klingelt. Schlaftrunken wache ich auf, meine Augen ekelhaft verklebt, meine Oberlippe hängt trocken, leblos an den Schneidezähnen und ich ziehe hochkonzentriert die Stirn kraus, um zu peilen, ob es sich um ein reales Klingeln oder um ein unpassendes Traumklingeln handelt. Es klingelt wieder. Äh! denke ich und werfe einen Blick auf meinen Pferdchenwecker mit der weißen Stute ohne Kopf, welcher beim letzten Umzug abgebrochen ist, und ich kotze. 8.28 Uhr. Alter, wer klingelt um 8.28 an meiner Tür. TNT ist es nicht, die kommen mittags oder gar nicht, der Postmann hat mittlerweile nach gefühlten 384 Protesten der Mieter einen eigenen Schlüssel und ein Paket erwarte ich nicht. DOCH! Ich springe aus dem Bett, habe in meinem plötzlich auftretenden Freudewahn völlig vergessen, dass ich die Paketlieferantenthese schon gleich als erstes abgetan habe, und denke an die super coole Jogginghose, die meine beste Freundin für mich bestellt hat. Das ist sie! Das ist sie! Im Schlafdress mit zerzausten Haaaren, einer Medusa nicht unähnlich, renne ich zur Tür, komme in der Kurve im Flur ins Straucheln und rufe sogar "Ich komme! Ich komme!" wie in den schlechten amerikanischen Filmen. Ich drücke den Summer, reisse die Tür auf und zucke zusammen. Da steht ja schon einer. Und was für einer... ein Riesenkerl mit schwarzem Haar, blauen Augen und einem Superlächeln.

"Guten Morgen, Frau Settergren!" spricht etwas aus dem Off. Er ist es nicht, denn sein Mund bewegt sich nicht, ich blicke zur Seite und schräg hinter ihm steht eine hunzlige Minifrau, eine Zwergin würde ich es nennen, wäre es nicht politisch so unkorrekt. Ich bin irritiert, mein Hirn arbeitet nach 2 Minuten Wachsein noch nicht ganz richtig und ich kann die Situation nicht verstehen. Wäre ich ausgeschlafen gewesen, hätte ich niemals die Tür geöffnet und wenn doch, sie bei diesem eindeutigen Anblick sofort wieder zugeknallt. Waldschrat Minime tritt einen Schritt vor und hält mir den Wachturm ins Gesicht. Erwachet! Nach einigen Sekunden unnatürlicher Ruhe bin ich wach. Wach wie nach 5 Koffeintabletten, runtergespült mit Red Bull und irgendwelchen Ecstasypillen. Hellwach. "Ich BIN wach!" belle ich sie an. Obwohl es rein physiologisch gar nicht möglich ist, lächelt Jehovas Frau noch mehr. Kleine Minizähne hat sie, relativ weiß mit zu viel Speichel drauf. "Das ist schön!" sagt sie. "Wir möchten Ihnen helfen, Frau Settergren." Helfen? So wie ich es dem kleinen Mann im Einkaufscentrum schon sagte, mir kann keiner mehr helfen. Niemand. ich bin verloren. Da hilft kein lächerlicher Gasluftballon mit Budnikowski drauf und auch kein Traubenbonbon und erst recht kein Wachturm. Ich will ihr das erklären, aber ich erinnere mich an meinen Vater, der mir damals als ich auszog mit auf den Weg gab: Und Kind, wenn die Zeugen kommen, TÜR ZU! Keine Unterhaltung, keine Diskussion, TÜR ZU!

Aber ich-seh-gut-aus-und-köder-alle-Frauen-für-Jehova-Mann lächelt immer noch und ich würde fast schwören, dass ein kleines Lichtchen in seinem linken Auge aufblitzt. Ich stelle ihn mir vor, wie er mit seinen Freunden in der Schanze sitzt, seinen Kopf in den Nacken legt, wenn er schallend lacht und danach an seinem Bier nippt. Ich stelle ihn mir vor, wie er am Wochenende tanzen geht, in irgendeinen der Electro-Clubs dieser Stadt und mit Frauen flirtet. Ich finde ihn heiß und denke sofort an meine beste Freundin, die ihn ganz sicher auch heiß finden würde. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Die Haustür geht auf und der Hausmeister betritt die Szene. "Was hab ich euch gesagt??? WIe oft hab ich euch gesagt, dass dieser Eingang (er schreit), dieser Innenhof (er wird lauter) ja die komplette Straße (seine Stimme überschlägt) für EUCH gesperrt ist. Verbannt seid ihr!" Zwergin erschreckt sich sehr, Schönmann steht nur herum. Sie sagen beide gar nichts. Aber Hausmeister-Mann legt weiter los: "Verschwindet, hier wohnen die Verdammten!" Ich starre ihn an. Er lächelt mich hinter den Rücken der von dannen ziehenden Zeugen an und verdreht die Augen. Ich bleibe im Türrahmen stehen und sage leise, fast traurig: "Aber ich bin nicht verdammt..." Hausmeister antwortet: "Doch. Wir sind alle verdammt. Und da kann uns auch der verdammte Jehova nicht helfen." Ich mache ein muksches Gesicht, ziehe die Tür leise zu und sage: "Ich will meine Jogginghose."
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