5
Mai
2010

Weine nicht.

In den 40ern hat ein kranker Nazi-Arzt Versuche mit den Babies von Juden gemacht. Er isolierte drei Säuglinge in einem sterilen Raum und die Ammen - nicht die leiblichen Mütter - durften die Kleinen nur und ausschließlich wickeln und füttern. Streicheln, sprechen, singen oder küssen war verboten. Nach wenigen Wochen starben alle drei Babies. Wir können nicht leben ohne Liebe, ohne Zuneigung und ohne Wärme. Es gibt aber ebenfalls noch einen großen Teil von Menschen, der nicht ohne Musik leben kann. Musik trägt dich, sie hebt deine bereits gute Laune um 10.000 Meter, sie beruhigt dich nach einem stressigen Tag und manchmal lässt sie dich endlich weinen. Ich bin mir sicher, dass die Selbstmordrate auf der ganzen Welt ohne Musik weitaus höher wäre. Musik rettet dich, deckt dich zu und zeigt dir immer wieder, dass das Leben schön ist. Musik ist wie ein Schwamm, sie saugt deine Emotionen auf und speichert sie. Wie die Büchse der Pandora lässt sich eine bestimmte Gefühls-Truhe in dir mit einem Lied öffnen. Und sie strömen heraus, all die irgendwo in den Tiefen deiner Seele verschlossenen, uralten Gefühle. Aktiviert mit nur einem Lied.

Dem Lied, das du in einer endlos-Schleife hörtest. Nur dieses Lied. Nicht stundenlang, nicht tagelang. Wochen- und monatelang gab es für dich nur diesen einen Song. Du fühlst dich genau wie damals, bist wieder 15 Jahre alt und erinnerst dich an jede Kleinigkeit, jedes Bauchziehen und jede verzweifelte Atemlosigkeit. Dein Herz klopft und du willst dich festhalten, weil du spüren musst, dass du im Jetzt bist und nicht durch einen Hirnschlag gestorben und eine dieser übernatürlichen Zeitreisen machst. 15 lange Jahre sind seit dem Unglück vergangen, du hast deinen Frieden gefunden, die entsetzliche Realität angenommen, sie in dein Leben implementiert und plötzlich läuft unverhofft im Supermark der Song. Und du bleibst stehen, greifst nach dem Rand des Nudelregals, hältst dich fest, schließt die Augen und drückst in Gedanken mit aller Kraft die Gefühls-Truhe zu. Bitte nicht raus kommen. Bitte bitte nicht raus kommen. Doch es ist zu spät. Du weinst. Leise Tränen, die fast schüchtern deine Wangen runterlaufen, werden zu großen Salzwasserperlen und du vergräbst schluchzend dein Gesicht in den Händen. Zum Glück ist es früh am Morgen und zum Glück macht der nette Auszubildende einen gehörigen Lärm mit dem Einräumen der Getränke, so dass du dich schnell fangen, bezahlen, nach Hause eilen und den Song noch mal hören kannst.

Du suchst das Lied bei Youtube, denn du hast es nirgendwo, es steht auf deiner persönlichen schwarzen Liste, findest es und lehnst dich zurück. Lässt dich überrollen von der Traurigkeit und verstehst jede Zeile. Du hörst auf zu weinen. All die traurigen, verzweifelten Gefühle, die zu dem Lied in deinem Bauch und deinem Herzen tanzen, werden langsam. Und ein beruhigender Mantel legt sich über sie. Die gute alte Hoffnung kommt Hand in Hand mit dem Wissen, dass alles gut wird. Du erkennst, dass niemand wirklich geht, dass nicht nur die Emotionen in einem Lied bleiben, sondern auch der Trost und die Liebe.

Ich vermisse dich. Wir sehen uns eines Tages wieder.

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