8
Jun
2010

Was an einem einzigen Morgen alles schief gehen kann – von Frau Settergren

Ich hebe feierlich die Hand und gelobe, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. So wahr mir Gott helfe. Seine Hilfe hätte ich an diesem heutigen Morgen mehr als nötig gehabt. Aber wo war Er? Vermutlich hatte der Heilige Vater weitaus wichtigeres zu tun, als einer zu häufig der Sünde verfallenden und zu selten Gutes tuenden Chaotin beizustehen. So kam es, wie es kommen musste. Ich erlebte einen Höllenmorgen und ich bin mir sicher, dass Luzifer und seine bösen Anhänger allesamt die Fäden gezogen haben.

Wenn man kränkelt, unternimmt man ungern Reisen. Wie es um die allgemeine Bereitschaft und Freude bestellt ist, eine Fernreise anzutreten, wenn man sich vor Schmerz kaum auf den Beinen halten kann und selbst das sonst so zelebrierte Verweilen in Horizontalstellung keine Linderung bringt, muss ich nicht ausführen. Jeder hat sich schon mal mit irgendwelchen unangenehmen Wehwehchen in ein Flugzeug oder einen Zug geschleppt. Aber lieber Leser, du nimmst jetzt bitte dein schlimmstes Leiden mal 10. Damit auch nur ansatzweise nachempfunden werden kann, was ich heute erleiden musste. Nein, ich habe mich nicht auf den langen Weg nach Asien oder über den Teich gemacht. Eine Fernreise ist für mich alles, was länger als 2 Stunden Fahrt bedeutet. Heute fahre ich 4.5 Stunden. One way. Morgens hin, abends zurück. Auf die Anwesenheit eines Trolleys bis oben hin gefüllt mit zeitvertreibenden Utensilien und lebensrettenden Anwendungen wie z.B. Feuchtigkeitsmaske, zwei Paar Extra-Schuhe, Nintendo DS inkl. 16 Spielen, Tomatensaft und 5 Magazine habe ich heute verzichtet.

Ich wache also auf. Von allein wäre übertrieben und ich habe ja versprochen, alles so zu schildern, wie es sich wahrhaftig zutrug. Meine Aufsteh-Performance ist okay. Nicht gut, aber auch nicht wirklich schlimm. Unter Berücksichtigung der Aufstehzeit, welche ich mit Bauern und potent-laut kreischenden Hähnen in Verbindung bringe, bewege ich mich fast schon leichtfüssig aus dem Bett. Einigermaßen fit bewege ich mich vorsichtig unter die Dusche. Vorsichtig, weil meine Nierenbeckenentzündung mich stets daran erinnert, aktuell in dem Körper einer 80 jährigen Rost-Oma zu stecken. Das Wasser wird heiß und ich bekomme keine Kreislaufprobleme. Toll! Ich will ein Liedchen anstimmen und mich in Freude versetzen und da passiert es: ich habe keine Stimme. Ich versuche, vom Singen auf den normalen Sprachmodus zu switchen, aber keine Chance. Ich bleibe stumm. Ich räuspere mich, unter unfassbaren Schmerzen, und bekomme dann mit großer Konzentration ein Wort heraus: NE NÄ! Genau genommen waren es sogar zwei Worte, aber das macht die Sache nicht besser.

Zu meiner Ungläubigkeit und den Halsschmerzen gesellt sich dann doch ziemlich schnell das eben noch vermisste Kreislaufproblem und ich unterbreche den Duschvorgang, um mich lieblos in Handtücher gehüllt aufs Bett zu legen. Ich bin schwach. Ich kann nicht. Oh doch du kannst!! schreit mir mein persönlicher, unsichtbarer Drill-Instructor ins Gesicht. Ich habe mir den mal angeschafft, er wohnt in meinem schlechten Gewissen, damit ich überhaupt mal irgendwas in meinem unstrukturierten und ziellosen Künstler-Leben auf die Reihe bekomme. Ich jammere wie ein frierender Welpe mitten in der Nacht, frisch getrennt von seiner Mutter und seinen Geschwistern. Leise fiepend bemitleide ich mich selbst, doch Captain Jack kennt keine Gnade. Also tue ich das, was ich nicht hätte tun sollen und was ich noch bitter bereuen werde. Ich stehe auf.

Mit langsamen Bewegungen zwänge ich mich in das am Vorabend ausgewählte Outfit. Sieht gut aus. Sieht sogar sehr gut aus. Um die Nierenbeckenentzündung ruhig zu stellen, setze ich noch schnell das Teewasser auf und ziehe in der Zwischenzeit schon mal die Schühchen an. Das mache ich sonst nie. NIE NIE NIE. Nie ziehe ich schon Schuhe an, bevor ich überhaupt in der Nähe der Haustür bin. Nie. Ich verabscheue es, Schuhe in der Wohnung zu tragen. Hundekackereste und sonst welche Krankheitserreger vom schmutzigen Draußen in die heimeligen vier Wände zu tragen, ist für mich mindestens genauso schlimm, wie in weiche, verschimmelte Obststellen zu beissen. Heute mache ich es aber. Warum, weiß nur der Teufel. Ich widme mich meinem Tee und vielleicht bin ich noch zu müde, vielleicht bin ich zu schwach und sehr von der Krankheit gezeichnet oder vielleicht bin ich einfach nur ein dämlicher Trampel, jedenfalls landet der dunkle Tee auf meinem sorgsam zusammengestellten Dress. Ungläubig schaue ich an mir herunter, die triefende Teetasse noch in der Hand. Ich schließe die Augen. Nein bitte nicht! Ich schiele auf die Uhr. Okay, ruhig bleiben, du hast noch eine Alternative im Schrank. Den süßen Rock mit den Blumen und Blüten. Gedacht, getan. Rock und Oberteil – immer noch beweglich wie ein steifer Gichtpatient - ausziehend humpele ich, dem Esmeralda schmerzlich vermissenden Quasimodo nicht unähnlich, durch den Flur ins Schlafzimmer.

Zu faul, die Schuhe auszuziehen, zwänge ich mich aus Rock A, um in Rock B zu schlüpfen. Faulheit wird bestraft. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern gleich. So bleibt linkes Zauberschühchen keckerweise einfach am Rock hängen und reisst ein nicht zu verachtendes Loch in den Stoff. Ratsch! Für eine kurze Sekunde rede ich mir ein, dass soeben auf gar keinen Fall der Rock, und damit die letzte Alternative, gerissen ist. Aber natürlich, es war der Rock. Nicht der Unterrock, sondern der richtige echte Rock. Der mit den Blumen und Blüten. Okay, denke ich, du kannst immer noch ganz ruhig bleiben. Du nimmst jetzt erst mal eine Schmerztablette und dann lackierst du dir noch schnell die Nägel. Gesagt getan. Animiert durch die Wirkung des Lacks, welchen ich nicht gesoffen, aber tüchtig eingeatmet habe, kommt mir die glorreiche Idee, den Rock doch einfach zu kleben. Ich ertappe mich dabei, wie ich freudig ob des grandiosen Planes in beide Hände klatsche und die Schublade aufreisse. Hahaaaar. So einfach ist das. Ich kratze den verkrusteten Uhu-Kleber mit der Schere frei und schmiere die zähe Masse auf den Rock. Und presse beide Stofffetzen zusammen. Dabei fällt mein Blick auf die frisch gemalten Nägel. Äh! Hässliche Muster haben sich durch die spontane Klebeaktion auf allen Nägeln abgezeichnet. Wieder der Blick auf die Uhr. In weißer Kaninchen-Manier spare ich mir das Sinnieren über die Notwendigkeit perfekter Nägel als Goodie bei einem wichtigen Gespräch und greife nach dem Nagellackentferner. Also auf ein Neues! Ich hab ja Zeit.

Langsam müsste ich eigentlich mal los und lege mir noch schnell die Wegbeschreibung auf die Kommode. Ohne Beschreibungen bin ich aufgeschmissen. Das gilt für alles. Ich fahre nicht ohne Grund als waschechte Hamburgerin in meiner eigenen Stadt mit einem Navigationssystem durch die Gegend. Ohne Beschreibungen fühle ich mich hilflos. Es ist gar nicht so, dass ich sie unbedingt brauche. Sie haben viel mehr einen Placebo-Effekt. Sie beruhigen mich. Und nur für den Fall der Fälle, kann ich ja dann noch mal nachschauen, ob ich auch wirklich richtig liege. Was das betrifft bin ich eben ein kleiner Otis Redding. I need Security and without it I will be lost. Security. And I want it at any cost. Ich gehe noch mal für kleine Mädchen und während ich entspanne, merke ich, wie ich doch in sehr kurzer Zeit bemerkenswert müde geworden bin. Seltsam... ich habe doch nicht?! Ein kurzer Check der Pillenpackungen in der Kosmetiktasche bestätigt: ich habe in der Eile die Schmerz- mit den Schlaftabletten verwechselt. Und zwar nicht mit diesen lächerlichen deutschen Lutschbonbons, die genau genommen weder müde noch träge machen, sondern mit den echten aus Amerika, die vermutlich einen kräftigen Zuchtbullen zum Schlafen bringen. Oder eben bei den Jacksons und Murphys dieser Welt eine gewisse Wirkung erzielten.

Finger in den Hals ist jetzt viel zu spät. Und das Risiko, auch noch das neue Outfit zu bekleckern, ist mir einfach zu groß. Ich kann selbst nicht glauben, wie verantwortungsvoll und vernünftig ich zuweilen agieren kann und verzichte tatsächlich darauf, in den Wagen zu steigen und setze mich in die Bahn. Am Hauptbahnhof angekommen, kaufe ich mir nach all den Strapazen mit letzter Kraft einen großen frisch gepressten Osaft für ein kleines Vermögen. Diesen von der Sonne geküssten, süßen Nektar halte ich ganze 3 Sekunden in den Händen, dann fällt er mir aus diesen. Ich bin eben einfach müde. High. Krank. Am Ende. Und stehe kurz vor einem Zusammenbruch. Türkischer Saftpresser bemerkt dies feinfühlig und sagt sofort: „Nicht schlimm!! Ich mache dir einen neuen.“ Mein Tränenfluss wird gerade noch gestoppt. Müde warte ich auf meinen neuen Drink und will einfach nur noch im Zug sitzen. Er kommt pünktlich. Ich steige ein und habe ein ganzes Abteil für mich allein. Zufrieden schlürfe ich den Osaft und beschließe, dass mich jetzt nichts mehr aus der Ruhe bringen kann. Auch die große Laufmasche, die sich an meinem Knie gebildet hat nicht. Auch nicht die immer stärker werdenden Nierenschmerzen nicht. Denn ich werde mich gleich hinlegen. Und schlafen. Und versuchen, mir dabei den Weg noch mal einzuprägen, denn die Beschreibung habe ich nun doch vergessen.

Was für ein seltsamer Morgen. Mich würde es nicht wundern, wenn mich gleich ein Anruf aus meinem Schlaf reisst, mein Freund mit mir Schluss macht, weil er sich Hals über Kopf in die Inderin aus der Schneiderei verliebt hat, ich meinen Umsteigebahnhof verschlafe, meine Wohnung abgebrannt ist oder oder oder...

To be continued.
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