19.00
Er kommt um 19.00 Uhr. Sie ist nicht mehr aufgeregt. Früher, denkt sie, früher war sie schon drei Stunden vorher aufgeregt. Hat die Wohnung geputzt und sich was nettes angezogen. Sie wollte schön sein. Schön sein für ihn. Ihm wieder zeigen, dass sie mit all den Frauen mithalten kann, die er in den letzten Monaten gevögelt hat. Dass sie immer noch seine Kleine ist. Sein Baby. Sie geht zum Fenster. Es ist dunkel und es regnet. Rainy days never say goodbye. Der Song fällt ihr ein. Die Strasse ist voller Blätter. Ein typischer ungemütlicher Herbstabend. Sie beobachtet ein Ehepaar, das sein Kind im Kindersitz verstaut. Früher, da war so ein Szenario ihr Tagtraum. Ihr liebster. Schnell wischt sie den Gedanken weg. Ihr Blick geht zur Uhr. 18:45 Uhr. Soll sie vielleicht doch lieber schnell die Gammelhose, die er an ihr so süss findet, gegen die enge Jeans eintauschen? Ach was, wozu? Er sieht sie eh mit den alten Augen. Mit den Augen, mit denen er sie immer gesehen hat. Sie könnte eine andere Rolle spielen, sich anders geben. Es würde an ihm abprallen. Er sieht sie wie damals. Sie bleibt seine Kleine. Die einzige Frau, bei der er so sein kann, wie er ist. Mit der er stundenlang eng aneinander gekuschelt auf der Couch liegen und reden kann. Die einzige. Sie ist müde. Ihr Herz bleibt bei den Gedanken an dieses Wissen emotionslos. Sie fühlt nichts ausser einer grossen Traurigkeit. Warum musste sie sich auch in einen rastlosen Mann mit unbändigem Freiheitsdrang verlieben? Hatte sie sich denn in ihn verliebt? Als sie damals zusammenkamen, die zwei Seelenverwandte, der Deckel und der Topf, war er nicht so. Oder war er schon immer so und hatte sich die ganzen Jahre verstellt? Sie weiss es nicht. Wieder ein Blick auf die Uhr. 18:49 Uhr. Sie spielt mit ihrem Haar. Dreht immer wieder die gleiche Strähne zu einer Kordel und macht kleine Knoten. Ihr Blick schweift durch die Wohnung und bleibt an der Karte, die er ihr geschrieben hat, kleben. „Für meine Kleine". Kurz wird sie wehmütig. Zerrt aber sofort einen anderen Gedanken in ihren Kopf. Sie will es beenden. Sie will ihm sagen, dass es so nicht mehr geht. Dass sie ihn schmerzlich vermisst, sobald er sie verlassen hat. Sie will ihm noch viele andere Sachen sagen. Dass sie ihn manchmal hasst, weil er seine jetzige Männer-WG angenehmer findet, als die Jahre mit ihr in einem Haus. Dass sie ihn auch hasst, wenn er andere Frauen trifft. Frauen, über die er sagt, dass sie ihn langweilen, dass er eigentlich gar keine Lust auf diese Dates hat. Sie möchte ihn dann auslachen. Möchte fragen, ob er weiss, was er da redet. Aber sie tut es nicht. Sie hört einfach zu. Sie möchte ihm manchmal ins Gesicht schreien, dass er launisch und ungerecht ist. Und manchmal, ganz selten, möchte sie ihm eine runterhauen. So richtig. Ohne Vorwarnung. Einfach ausholen und BAMM! 18:52 Uhr. Sie schlendert in die Küche, schenkt sich einen Saft ein. Trinkt. Lässt in ihrer typischen Art einen Spuckrest im Glas. Das hat ihn früher verrückt gemacht. Er hat sich ständig über ihre Macke aufgeregt, das Glas nicht komplett zu leeren. Heute findet er es süss. Er hat es akzeptiert. Warum kann sie nicht akzeptieren? Vermutlich, weil es einen Unterschied gibt zwischen Spuckresten im Glas und seelischer Grausamkeit. Aber sie hat es sich ja so ausgesucht. Sie war der Meinung, dass es ihr ohne ihn noch schlechter ging als mit ihm. Sie war stark. Doch jetzt ist sie müde. So müde. Ihr gefällt die Rolle der Kleinen nicht mehr. Sie will ihre Meinung sagen, will auf den Tisch hauen. So wie sie es früher tat. Und wenn er dann vom Hofe kriecht wie ein geprügelter Hund, dann will sie stolz und fröhlich sein. Und nicht am Boden zerstört. Sie ist es leid, ihm immer und immer wieder zu beweisen, dass sie besonders ist, anders als all die rotzhohlen Pipimädchen, die sich schon beim ersten Date als seine Freundin sehen, sich um ihn reissen und anbieten. Ein komisches Gefühl durchfährt sie. Bietet sie sich nicht auch an? Ein lautes Auto mit schwerem Motor. Sie rennt zum Fenster. 18:57 Uhr. Er ist es. Seine typische Art einen Parkplatz zu suchen. Langsam zu fahren, um dann ruckartig Gas zu geben und weiterzufahren. Er hat Glück. Genau vor der Tür ist eine Parklücke frei. Sie beobachtet ihn. Einparken kann er nicht. Irgendwie amüsiert sie das. Der grosse, starke Mann, der Held, den alle vergöttern, kann nicht einparken. Sie kichert. Er kramt seine Sachen zusammen. Guckt schon zu ihr, winkt. Sie winkt nicht zurück. Und bemerkt es gar nicht. Sie mustert ihn. Ihr fällt sein Kinn ein. Es ist ein richtiges Hexenkinn, welches ihr früher nie aufgefallen war. Eigentlich ist es hässlich. Sie stellt ihn sich vor, mit einer Warze auf der Nase und einem Kopftuch. Ihre Gedanken driften ab und sie schiebt die Hexe in den Ofen. Lachend schüttelt sie den Kopf. Gott, Mädchen, jetzt nicht die Nerven verlieren. Es klingelt. Sie rührt sich nicht. Es klingelt wieder. Sie überlegt, was wäre, wenn sie nicht zur Tür ginge. Kleine, mach auf! Hört sie ihn rufen. Langsam geht sie zur Tür. Spürt, dass er auf der anderen Seite steht und lächelnd wartet. Die Hände in den Taschen. Gross und cool. Ihre Hand geht zum Türgriff. Sie zieht sie zurück. Plötzlich ist alles so klar. Mit ruhiger Stimme antwortet sie durch das weiss lackierte Holz:
Deine Kleine gibt es nicht mehr.
19:00 Uhr.
Deine Kleine gibt es nicht mehr.
19:00 Uhr.
Frau Settergren - 12. Aug, 11:55